Industrielle Systeme können vom Design von Verbraucherprodukten profitieren, sofern mit der entsprechenden Vorsicht vorgegangen wird
Zwischen dem Design von Verbraucherprodukten für den Massenmarkt und Produkten für industrielle Anwendungen besteht eine faszinierende, gleichsam gute und schlechte Beziehung. Bei der Hardware können Entwickler von Industrieanwendungen auf die zahlreichen Komponentenmerkmale aus der Welt der Verbraucherprodukte zurückgreifen und davon profitieren. Hierzu zählen Niederspannungs-ICs mit geringem Stromverbrauch, in Massenproduktion hergestellte, kostengünstige passive, aktive Bausteine und Gehäusekomponenten sowie eine Vielzahl kleiner aber flexibler Benutzerschnittstellenoptionen (Displays und Tastaturen).
Bei der Software stehen vorprogrammierte Routinen für I/O-Funktionen wie Treiber, Konnektivität und Benutzerschnittstellen, Routinen für die System- und Verbindungssicherheit, Verschlüsselungsroutinen und numerische sowie mathematische Funktionen zur Verfügung, um nur einige zu nennen.
Aus diesen Gründen macht es für die Entwickler von industriellen Anwendungen Sinn, auf Komponenten aus Verbraucherprodukten und auf andere Ressourcen zurückzugreifen – dort, wo es wirklich sinnvoll erscheint.
Zwischen den beiden Welten gibt es jedoch große Unterschiede, und es bestehen sogar Nachteile für die Entwicklung, wenn man zu sehr auf die Vorgaben und Zielsetzungen bei der Produktentwicklung für den Massenmarkt achtet. Nachfolgend sind zwölf dieser Unterschiede aufgeführt, die herausstechen:
1) Umfang: Industrielle Produkte sind darauf ausgerichtet, eine oder wenige Aufgaben gut und zuverlässig auszuführen. Bei den meisten industriellen Produkten gilt die Devise „weniger ist mehr“. Mit anderen Worten: Es werden weniger Funktionen geboten, sogar mit geringerer Flexibilität, wobei diese jedoch mit einer absolut zuverlässigen Software und konsistenter Hardware implementiert werden. Im Gegensatz dazu leiden viele Verbraucherprodukte an einer schleichenden Überladung mit Funktionen und Aufgaben.
2) Die Benutzerschnittstelle: Verbraucherprodukte werden mit ihren vielschichtigen Kontextmenüs, einer Unmenge an Benutzeroptionen und ständigen Anfragen vom Betriebssystem häufig zu kompliziert. Im Gegensatz dazu muss die industrielle Benutzerschnittstelle sich direkt auf eine Aufgabe konzentrieren und mit Auswahlmöglichkeiten für den Benutzer ausgestattet sein, die eindeutig und relevant sind.
3) Komplexe Tastatur: Industrielle Produkte verfügen über dedizierte Einzelfunktionstasten für Funktionen mit hoher Priorität anstatt über „Softkeys“, die von der Systemsoftware für unterschiedliche Betriebsmodi immer wieder neu definiert werden.
4) Regulatorische Vorgaben: Verbraucherprodukte sind durch die Vorgaben für EMI- und RFI-Emissionen stark eingeschränkt, die zum Großteil auf die Leistung ihrer Netzteile zurückzuführen sind. Für industrielle Designs gelten ebenfalls Emissionsvorgaben. Diese sind aber häufig weniger streng angesichts der Umgebung, in der die Designs zum Einsatz kommen. Die höheren Spannungen vieler industrieller Systeme stellen jedoch strengere Anforderungen an das physische und sicherheitstechnische Design, beispielsweise bei den Luft- und Kriechstrecken des Leiterplattenlayouts.
Abbildung 1: Die SPS AFPX-C14R von Panasonic bietet ein industrielles Design, das sich von der typischen Ästhetik von Verbrauchergeräten unterscheidet. (Bildquelle: Panasonic)
5) Schutz: Industrieprodukte müssen vor ESD, Spitzen, Rauschen, Überspannung und vielen weiteren schädlichen Einflüssen geschützt werden, die von ihrer Umgebung ausgehen. Bei Verbraucherprodukten muss der Schutz vor diesen Störgrößen in der Regel nicht so umfassend sein.
6) Thermische Probleme: Bei vielen Verbraucherprodukten muss die Kühlung ausschließlich über natürliche Konvektion erfolgen. Aus diesem Grund befinden sich in ihren Abdeckungen üblicherweise zahlreiche Kühlöffnungen (und der Benutzer muss darauf achten, diese nicht abzudecken). Viele Industrieanwendungen gehen im Gegensatz dazu von einer heißeren Umgebung und sogar einem verschlossenen Schaltschrank mit minimaler, nicht erzwungener Luftzirkulation aus. Aus diesem Grund muss eine Zwangskühlung in die Systementwicklung mit einbezogen werden.
7) Aussehen: Bei Verbraucherprodukten ist ein ansprechendes Aussehen oftmals ebenso wichtig wie Funktionsumfang und Komfort. Aus diesem Grund werden kleine Tasten und häufig unleserliche Beschriftungen verwendet. Bei Industriedesigns hingegen wird der Nutzbarkeit und der Funktionalität gegenüber dem Aussehen der Vorzug gegeben, sodass Produktgehäuse, Formfaktor und Beschriftung häufig durch die Primärfunktionen des Produkts definiert werden, selbst wenn das Ergebnis nicht besonders ästhetisch ausfällt. Das ist bei einer speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) wie der AFPX-C14R von Panasonic mit ihrem einfach gehaltenen Gehäuse, dem einfachen Benutzerdisplay und den problemlos zugänglichen Kabelanschlüssen deutlich zu erkennen.
8) Netzteil: Bei industriellen Designs bildet das Netzteil die Basis für Systemzuverlässigkeit, Stabilität und Langlebigkeit. Industrielle Netzteile legen den Schwerpunkt auf die Designspielräume in Bezug auf die Komponententoleranzen, den Temperaturbereich, das Rauschen, die langfristige Leistung und die insgesamte Robustheit. Verbraucherprodukte setzen häufig auf eine knappe Stromversorgung, die soeben noch ausreicht, die wenig Spielraum bietet, die den Schwerpunkt auf niedrige Kosten und (bei Batteriebetrieb) eine lange Laufzeit legt und die unter Umständen nicht lange hält. Es gibt zahllose Geschichten über Netzteile (und somit Produkte), die bereits nach einem Jahr einfach versagten, weil ihre in Massen hergestellten Kondensatoren ausgetrocknet sind oder sich „aufblähten“.
Abbildung 2: Kondensatoren für industrielle Anwendungen, beispielsweise der THH9476M063W0250W von AVX, legen Wert auf höhere Temperaturtoleranzen und eine lange Lebensdauer. (Bildquelle: AVX)
Im Gegensatz dazu enthalten die Stücklisten für industrielle Netzteile häufig Kondensatoren, die für höhere Temperaturen geeignet sind und länger halten. So ist etwa der Kondensator THH9476M063W0250W aus der THH-Serie von AVX eine Komponente aus Tantal mit einer Kapazität von 47 Mikrofarad (µF). Sie misst 12 Millimeter (mm) × 12,50 mm × 6 mm und bietet eine Betriebsdauer von 1000 oder 2000 Stunden bei 230 ⁰C (je nach Suffix) und von 10.000 Stunden bei 200 ⁰C (Abbildung 2). Obwohl sehr wenige industrielle Anwendungen diese Temperaturen überhaupt erreichen werden, bedeutet dieser Umstand, dass die Lebensdauer bei gemäßigteren aber dennoch hohen Werten um mehrere Größenordnungen länger sein wird als die für Standardkomponenten bei Raumtemperatur angegebenen 1000 Stunden.
9) Physische Konnektivität: Während Verbraucherprodukte oftmals mehrere Kabel und Steckverbinder benötigen (obwohl sich dies in manchen Fällen aufgrund von USB-Typ-C ändert), sind diese Steckverbinder nicht robust oder verriegelt. Denken Sie hierbei an die USB-, HDMI- und sogar die allgegenwärtigen Koaxialstecker für Netzteiladapter. Im Gegensatz dazu kommen in Industriedesigns robuste Steckverbinder zum Einsatz, die häufig über Verriegelungsmechanismen und Arretierungen verfügen.
Für die I/O-Verkabelung einfacher Transducer werden oftmals einfache aber zuverlässige Reihenklemmen verwendet, die zwar benutzerfreundlich (beim Anschließen und Trennen) sind, aber in dieser Form bei einem Verbraucherprodukt nicht akzeptabel wären. Die Reihenklemme VI0921550000G von Amphenol Anytek ist hierfür ein typisches Beispiel: Hierbei handelt es sich um eine Draht-zu-Board-Reihenklemme mit neun Positionen und Verschraubung des eingeführten Drahts. Wird der Draht vor dem Einführen korrekt abisoliert, liegen keine Drahtadern frei (Abbildung 3).
10) Sicherheit: Viele Verbraucherprodukte wie Low-End-Videokameras oder Türklingeln sind nur geringfügig bis überhaupt nicht vor Hackerangriffen geschützt. Für industrielle Systeme ist dies absolut inakzeptabel, da Hacker auf interne Informationen zugreifen oder Chaos an einer Fertigungslinie verursachen können. Hierzu sind wohl kaum weitere Erklärungen erforderlich!
Abbildung 3: Einfache und dennoch zuverlässige Reihenklemmen sind in industriellen Anwendungen weit verbreitet, wären für ein Verbraucherprodukt normalerweise jedoch nicht akzeptabel. (Bildquelle: Amphenol Anytek)
11) Upgrades vor Ort: Bei Verbraucherprodukten mit Internetzugang – heutzutage also bei fast allen – ist es üblich, dass der Anbieter „Upgrades“ herunterladen darf, häufig sogar ohne eine ausdrückliche Genehmigung seitens des Benutzers. Dadurch können sich Funktionen und mehr ändern, ohne dass der Benutzer hierüber aufgeklärt wird oder die Auswirkungen der Änderungen versteht. Noch bedenklicher ist, dass diese „Upgrades“ manchmal genutzt werden, um unter ihrem Deckmantel die Beta-Version eines Produkts auszuliefern, da eventuell auftretende Probleme später vor Ort „behoben“ werden können.
Für industrielle Benutzer ist nichts davon akzeptabel. Hier müssen Produkte vor der Auslieferung umfassend getestet werden und Upgrades müssen selten sein, im Vorfeld erläutert und anschließend zu einem vom Benutzer festgelegten Zeitpunkt durchgeführt werden.
12) Reparatur und Veralterung: Die Geschwindigkeit, mit der neue Produkte für Verbraucherdesigns eingeführt werden, bedeutet, dass der Verkauf dieser Designs häufig innerhalb weniger Jahre – drei bis fünf Jahre sind durchaus üblich – eingestellt wird. Ersatzplatinen sind dann nicht länger erhältlich (selbst wenn sie reparierbar sind) und auch ihre Komponenten sind unter Umständen nicht mehr verfügbar.
Im Gegensatz dazu werden Industrieprodukte üblicherweise für zehn, fünfzehn oder noch mehr Jahre verwendet. Aus diesem Grund müssen Ersatzplatinen, die in Form, Passgenauigkeit und Funktion identisch sind, für diesen Zeitraum verfügbar sein. Das bedeutet, dass der aktuellste und großartigste IC für ein industrielles Produkt eventuell nicht die geeignete Wahl ist, wenn der Anbieter nicht gewillt ist, die Anforderungen des Industriemarkts bezüglich der Langlebigkeit von Produkten zu akzeptieren.
Fazit
Die Entwickler industrieller Anwendungen sollten definitiv ein Auge auf manche der Komponenten und Ansätze aus dem Bereich der Entwicklung von Verbraucherprodukten haben und über ihre Verwendung nachdenken, da sie attraktive Lösungen für Herausforderungen und Ziele bei ihrer Entwicklungsarbeit darstellen können. Man muss jedoch auch die ausgeprägten Unterschiede zwischen den Prioritäten von Verbraucher- im Vergleich zu Industrieprodukten kennen und wissen, wann die Verwendung der Leistungsstandards und Komponenten von Verbraucherprodukten die Realisierbarkeit des industriellen Produkts beeinträchtigen könnten.
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